Mittwoch, 20. Oktober 2010

Oma Balve

Wir Kinder nannten unsere Grosseltern nach den Ortsnamen, wo sie wohnten, was vielleicht daran gelegen haben mag, dass wir uns am Wochenende immer auf den Weg machten, die Verwandschaft zu besuchen. So fuhren wir zu Oma und Opa Menden und Oma Balve. Opa Balve gab es nicht, er war im Krieg geblieben. Stalingrad. Verheizt von einem Wahnsinnigen und seiner Clique. Er hiess Richard und wenn wir von ihm sprachen, nannten wir ihn auch so: Opa Richard. Und nicht Opa Balve. Mein ältester Bruder ist nach ihm benannt.
Opa Menden war als nächster dran. Staublunge...die Arbeit als Bergmann, danach kam Oma Menden, die ich nicht besonders mochte, weil sie gotterbärmlich nach Nikotin stank und uns ständig abknutschen wollte. Bei 120 Zigaretten täglich war ihr frühes Ende vorhersehbar, mit 62 war´s soweit.
Da blieb nur noch Oma Balve. Manchmal, wenn meine Mutter mal wieder Erholung von mir brauchte, blieb ich für ein paar Tage bei ihr und musste jeden Abend vorm Schlafengehen  beobachten, wie sie die Tür mit allem Möglichen verrammelte und  -barrikadierte, ein Stuhl fand Anwendung, desgleichen so ´ne Art Nachtkasten und ganz oben drauf thronte immer ein Bügeleisen, das unter der Klinke verkantet wurde.
Als ich sie einmal fragte, warum sie das täte, sagte sie nur, es gäbe ja so viele Räuber und da müsse man sich schon schützen. Das klang irgendwie einleuchtend und ich wollte auch gar nicht weiter nachfragen, denn mir als damals 5 oder 6jährigem machte die Vorstellung, von bösen Menschen umgeben zu sein, Angst.
Bei Oma Balve durfte ich so ziemlich alles, was ich zuhause nicht durfte, mit einer Ausnahme: Der Teller wurde leer gegessen, kein Rumgequengel, kein "Ich mag nicht mehr" oder "Das schmeckt mir nicht".
Später, als ich schon etwas älter, vielleicht 10 oder 11 war, hab ich manchmal extra nicht aufgegessen, denn dann erzählte Oma Balve immer Geschichten.
Oberschlesien, die Russen rücken an. Der Krieg ist verloren, jetzt heisst es, sich in Sicherheit zu bringen. Zehntausende Menschen, viele so wie Oma Balve Frauen mit Kindern, die Männer tot oder vermisst, fliehen über die zugefrorene Ostsee. Wer nicht erfriert oder verhungert, stirbt an Erschöpfung oder wird von russischen Bomben zerfetzt. Ein Bruchteil kommt durch. Oma Balve spricht immer von den Russen, wobei sie natürlich die russischen Soldaten meint. Oft geht ihr Blick ins Leere und dann sagt sie so Sachen wie: "Ich hoffe, mein Richard hat sowas nie gemacht." Damals habe ich nicht verstanden, was sie meinte.


Einige Jahre später  kam Oma Balve, die ich immer noch so nannte, zweimal jährlich zu Besuch und blieb etwa einen Monat. Entlastung für meine Tante, die sie mittlerweile pflegte.
Oma Balve ging es schon nicht mehr gut, Krebs, Altersdemenz und auch die Gicht hatten ihre Spuren hinterlassen. Oft wusste sie nicht, wo sie war und in welchem Jahr wir lebten. Ich war 17.
Jeden Mittag, wenn ich von der Schule heimkam, trug ich sie die Treppen runter ins Wohnzimmer, was zu ständigen Streitereien mit meinem Vater führte, weil er meinte, ich solle das nicht machen, sie müsse sich bewegen, also nahm ich ihr das Versprechen ab,  unten ein wenig umher zu laufen.
Dann wurde ihr Zustand immer schlechter, der Tod näherte sich zusehends. Alle wussten das, nur sie nicht.
Wenn ich jetzt heimkam, ging ich zu ihr, las ihr ein wenig aus der Zeitung oder eine von meinen selbstgeschriebenen Geschichten vor. Eines Tages erzählte sie mir, was in der Scheune geschah, wo die russischen Soldaten sie gefunden hatten und da wusste ich, warum sie hoffte, dass Opa Richard sowas nie gemacht haben sollte. Danach fragte sie mich, ob sie bald sterben müsse.
Und ich sagte: "Ja Oma, bald hast du´s hinter dir. Alles."
Sie hat gelächelt, mir 10 Pfennig gegeben, mit dem Hinweis, ich solle mir was Schönes kaufen oder auf ein Fahrrad sparen...
Drei Tage später starb sie, ein Leben voller Entbehrungen, aber auch voller Liebe für ihren Richard, fand ein Ende. Sie hat nie wieder einen anderen Mann angefasst, Opa Richard nie für tot erklären lassen und sich bis zum Schluss die wöchentlich erscheinenden Listen mit wieder aufgetauchten Kriegsgefangenen schicken lassen.
Mag sein, sie hat viel verpasst im Leben.
Ich glaube nicht.

Heute wäre sie 105 Jahre alt geworden.

10 Kommentare:

daria hat gesagt…

So traurig ... :´(

Klingt nach einer starken, ehrenwerten Frau.

Mika hat gesagt…

<3

Verdummt in alle Ewigkeit hat gesagt…

Sie hat aber ganz bestimmt kein trauriges Leben gehabt...vielleicht hat sie sich etwas vorgemacht, aber die Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes hat sie am Leben gehalten und das war, jedenfalls nach aussen hin, ein vollkommen normales.
Sie hat 2 Kinder grossgezogen, später gearbeitet, viel gelacht und alles getan, was Menschen so tun. Mag sein, dass ihre Erinnerungen sehr schmerzhaft waren -ganz sicher sogar- aber sie hat sich ihre Welt drumherum gebaut...und ist eine ganz starke Frau gewesen, in jeder Beziehung.
Nebenbei hat sie mich dazu gebracht -eher unabsichtlich-, mich mit Geschichte zu beschäftigen, über Geschichte bin ich wiederum zu Geschichten gekommen, Siegfried Lenz z.B., den ich sehr schätze.
Und damit hat ihr Leben Einfluss auf meins gehabt und zwar sehr viel mehr, als sie sich das wahrscheinlich jemals hätte vorstellen können.

kralle hat gesagt…

Und somit schliesst sich im gewissen Sinne der Kreis. Nun weis ich auch woher du die Kraft und den Willen unter anderem her hast. Ich glaube sie lebt in gewisser Weise noch in dir weiter. Und das ist gut so. Klingt vielleicht komisch, aber am Ende danke ich der Frau, auch wenn ich sie so nicht kannte.

Na dann "Opa" Jörg. Weiter geht es.

rolf


PS: Das klingt übrigens für mich wie eine Art Rohfassung ausgesuchter Kapitel aus deinem "Erinnerungsbuch". ;-)

Verdummt in alle Ewigkeit hat gesagt…

Rolf, ich glaube, von ihr viel gelernt zu haben...dabei war sie keine besonders gebildete Frau. Herzensbildung, ja, die hatte sie, und zwar mehr als genug.
Wenn wir über den Krieg oder auch die Zeit danach gesprochen haben, hörte sich das nie verbittert an, keine Schuldzuweisungen an "die Russen". Ich glaube, wer solche Grauen er- und überlebt hat, dem sollte man zuhören, weil diese Menschen dir etwas vermitteln können, was du selbst nicht kennst...und hoffentlich nie kennenlernen wirst.

Yeah! hat gesagt…

Find ich schön das du so eine Oma hattest, und erinnerst dich sogar noch an ihren Geburstag!

Eine meiner Omas lebt noch und da weis ich nicht mal genau wie alt sie ist.

Das mit den 10Pfennig ist so typisch, süss :)

Yeah! hat gesagt…

PS:Du solltest ein Alte Geschichten Label einführen.
Ich mein wo wir doch immer als deine Laborratten herhalten, da kannst du ruhig öffter mal ein bischen Zucker rausrücken :)

kralle hat gesagt…

Wem sagst du dass. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, wo ich abends erst mit meiner Mam "Russisch" paukte - sie war schliesslich auch ein paar Jahre in deren Gefangenschaft - und anschliessend erzählte sie manchmal sogar von jener Zeit. Und komisch war auch immer, dass "nie" ein böses Wort oder dergleichen fiel. Leider ist sie nun in dem Alter, wo ihr entsprechendes Erinnerungsvermögen nicht mehr in jene Zeitepoche total zurückgreift. Die Geschichten hatten Farbe und waren auch wirklich spannend. Vorallem was den Lageralltag betraf. :(
Aber ihre Erinnerungen und zum Teil Erfahrungen, leben nun in gewisser Beziehung auch in mir. Wie gesagt. Du hast Recht. ;-)

rolf

PS: Ach ja. Du siehst ja wie "unzufrieden" deine Ratten langsam werden. Siehe "Yeah". Also mache ihnen den Gefallen, streue nicht immer nur Salz in ihre Wunden, sondern auch mal etwas Zucker in die "Mäuler". ;-)

kralle hat gesagt…

Nachtrag auch wegen der "10 Pfennige".

Vor ein paar Tagen war ich auf einem kurzen Besuch bei meiner Mam. Über den Empfang und entsprechende Verabschiedung will ich mal nicht Reden, weil das immer besondere Momente der Freude und auch des Schmerzes sind. Für beide Seiten.
Aber folgendes.

Sie deckt immer den Tisch, als wenn 20 Leute zu Besuch wären und ich "muss" wirklich wenigstens von allen Sachen probiert haben. Sie fühlt sich sonst nicht mehr gebraucht und verletzt. NA gut. Und jedes MAl hat sie auch immer eine Kleinigkeit extra als Geschenk. Für jeden von uns. Sei es die "günstigste" Angebotsschokolade für die Kinder - keine Schweizer Schoki ;-) -, Strümpfe eine Tischdecke oder irgend etwas anderes. Hauptsache sie kann eine Freude machen und sieht wie man sich dar¨über freut. Egal ob man es braucht oder nicht. Aber ihr in der Hinsicht eine Freude zu machen ist dennoch immer wieder wunderschön. Zumal die roten Wangen und leuchtenden Augen hinterher... Nur diesmal hatte ich nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern auch ein komisches und merkwürdiges Gefühl. Sie verhielt sich wirklich etwas anders, kam zur Verabschiedung sogar mit vors Haus in die Kälte was sie sonst nie machte, da sie kaum noch richtig laufen kann. Aber das schlimmst und merkwürdigste für mich war, sie steckte mir 20 € in die Hand und sagte wörtlich:"...mehr hab ich doch nicht mein Junge. Aber dann kansst du dir wenigstens was schönes "noch" kaufen..." Sie gab mir Geld, obwohl sie selber Mal mit gerade fast nur 500 € Rente auskommen muss. Es ist kein Wort über Geld oder dergleichen gefallen und sie hat so etwas auch noch nier vorher gemacht. Was sich dann noch abspielte erspare ich mir. Jedenfalls machte ich mir Sorgen, dachte aber bis zu dem Augenblick nicht mehr daran, als ich das mit den 10 Pfennigen bei dir las. Ich war aufgewühlt und aufgeregt, habe gleich bei ihr angerufen und mich wahnsinnig gefreut, als ich ihre "kindliche" Stimme hörte mit diesem rollendem "R".

Wir haben wahrscheinlich viel gerade von jener Generation lernen können. Zumindest die meisten von uns. Nicht nur was Menschlichkeit, Wertschätzung und dergleichen betrifft. Ich hoffe nur, dass ich wenigstens einen Teil davon dem heutigen Jugendflügel hier auch vermitteln kann. Mal schauen. Liegt aber am Ende zum grössten Teil wirklich nur an mir. ;-)

War ein langer "Nachtrag", musste aber sein. Danke fürs Erinneer.

rolf

Verdummt in alle Ewigkeit hat gesagt…

Naja, vielleicht streu ich hinundwieder mal ein bisschen Süssstoff ein...nicht dass ihr fett werdet (und mir dann die Schuld gebt) 8)
Ihr seid iwie nicht so als Laborratten zu gebrauchen - gebe ich euch die Möglichkeit, zwischen Weg A oder B zu wählen, rennt ihr lieber voll gegen die Wand...
Ja Yeah, mein Gedächtnis ist besorgniserregend gut...was manchmal recht hinderlich sein kann und das mit den 10 Pfennig...das war 1980...selbst da waren 10 Pfennig nix wert (hast vielleicht ´n Brötchen für gekriegt, wenn überhaupt).
Hat sie übrigens immer gemacht, Rolf, von daher war deine Befürchtung eher unbegründet. Wie gesagt, manchmal war sie so tüdelig, dass sie echt nicht mehr wusste, in welcher Zeit wir lebten.
Hab natürlich nie was gesagt, bestenfalls: Nein, dass muss nicht sein oder so. Hat eh nix genützt.
Sie war übrigens nicht in Gefangenschaft, sondern die haben sie danach laufen- bzw. liegengelassen.
Ich glaube, es war die Einsicht, was da im 3. Reich vor sich gegangen ist, die sie davon abgehalten haben, böse Worte zu verlieren, wobei ich die Generation als solche meine. Es gab die, die die Augen verschlossen und geleugnet haben und dann gab es die, welche wussten, was vor sich ging und aus welchem Grund auch immer geschwiegen haben.
Ich masse mir nicht an, darüber zu urteilen, obwohl ich mit Fug und Recht behaupten kann, eine Menge Zivilcourage zu haben, weiss ich nicht, was ich täte in einer Diktatur, wo Sichauflehnen deinen oder den Tod deiner Angehörigen bedeuten kann.